Der eingebildete Kranke

esssucht2Unter dem Titel: „Ein Volk von eingebildeten Kranken“ findet sich in der Welt vom 27.10.2010 ein Essay von Hans E. Müller. Er zeigt die elementaren Fehler des Krankenkassensystem, dem Irrweg der Gesundheitskasse und der Notwendigkeit einer existentiellen Neuregelung.

Eine Reform genügt nicht mehr. Es bedarf einer Revolution. Lesen Sie diesen lesens- und beachtenswerten unter folgendem Link: Ein Volk von eingebildeten Kranken

Oder auch hier zum Nachlesen:
Die gesetzliche Krankenversicherung ist ein sozialistisch organisiertes Fossil. Warum unser Gesundheitssystem uns eher krank macht, statt zu heilen. Eine Polemik von Sabine Menkens; Hans E. Müller

Wie das 16. Jahrhundert durch Reformation und Renaissance oder das 18. durch die Aufklärung geprägt waren, so war das 20. das Jahrhundert des real existierenden Kommunismus. Nicht persönliches Kapital und Vermögen sollten Lebensstandard und Wohlstand eines jeden Einzelnen bestimmen, sondern allein seine Bedürfnisse. Der Gedanke war so verlockend, dass ihm im Westen die idealistisch-integren Eliten verfielen, während er im Osten von Demagogen skrupellos zu Eroberung der Macht im Staat und eigenem Vorteil missbraucht wurde. Denn der real existierende Sozialismus stillte lediglich die Bedürfnisse der Funktionäre, die gleicher als gleich waren. Für die breite Masse des Volkes war es lediglich eine Verwaltung des Mangels.

Der fundamentale Denkfehler des kommunistischen Konzepts liegt in dem Irrtum, mit den Bedürfnissen der Menschen als einer festen Größe zu rechnen und sie in einer Planwirtschaft befriedigen zu wollen. Doch Bedürfnisse sind im Gegensatz zu Kapital, Vermögenswerten und Arbeitsleistung, nicht mess- und zählbar. Sie lassen sich nicht fassen, sie sind variabel, volatil und wolkig. Denn jeder Einzelne entscheidet über die Befriedigung seiner Bedürfnisse nach seinen Möglichkeiten und der Decke, unter der er sich ausstrecken kann. Im real existierenden Staatskommunismus wurde diese Decke immer kürzer, bis sie im Staatsbankrott endete.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Kommunismus in seiner reinen Form gerade in unserem sozialmarktkapitalistischen System in den 50er-Jahren entstanden ist, aber keineswegs geschaffen von Sozialrevolutionären, sondern von Bundeskanzler Adenauer, dem Antikommunisten par excellence. Die Furcht vor einem kommunistischen Mob, wie er ihn in den 20er-Jahren erlebt hatte, war sein Motiv, die Bestie bis zur Trägheit zu mästen. Sein sozialistisch geprägter CDU-Arbeitsminister Anton Storch legte daher 1955 die Grundlagen für ein Gesundheitswesen, wie es sich idealistische Kommunisten 100 und 200 Jahre zuvor in ihren Wunschträumen ausgemalt hatten. Es konnte allerdings nur in einem Sozialstaat mit gesetzlich verordneter Solidarität funktionieren, der starken Schultern mehr aufbürdet und schwache entlastet.

Früher hatte nur die Kirche Solidarität gefordert – die von den Gläubigen je nach ihrer emotional-religiösen Bindung befolgt oder auch nicht befolgt wurde. Nun zwingt unser Sozialstaat gläubige und ungläubige, barmherzige und weniger barmherzige Bürger gleichermaßen zu Solidarität. Das ist der positive Aspekt. Allerdings hat diese erzwungene Solidarität wie jeder Zwang Gegenkräfte freigesetzt. Die zuvor lebensnotwendigen sozialen Kleinraum- und Familienstrukturen wurden durch den Sozialstaat überflüssig und deshalb brüchig. Unsere sozialgesetzlich abgesicherte Gesellschaft hat sich individualisiert und entsolidarisiert.

In unserem Sozialstaat muss heute zwar niemand mehr verhungern, aber die stille Not der Einsamkeit war noch nie so groß. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein, das für Arme heute vom Sozialamt kommt, sondern auch von der emotionalen Zuwendung warmherziger Mitmenschen, die ihre Solidarität früher als persönlichen Gewinn erleben konnten. Weil sich aber unser zerebrales Belohnungssystem durch die mit der Lohnsteuer gesetzlich eingezogenen Sozialabgaben nicht aktivieren lässt, hat die Zwangssolidarität die individuell geübte Solidarität und das Mitleid so weit verkümmern lassen, dass nur noch professionelle Bettler erfolgreich sind. Die früher übliche gelebte Mitmenschlichkeit ist einem kalten Individualismus gewichen nach Paragraf eins: Jeder tut seins.

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist ein zentraler Bestandteil dieses Sozialstaats und fokussiert alle seine Vor- und Nachteile. Die GKV war 1883 von Bismarck ursprünglich nur für echte Notfälle der ärmsten zehn Prozent in der Gesellschaft geschaffen worden. Parteiübergreifend haben unsere Sozialpolitiker von Anton Storch bis Norbert Blüm stets mehr versprochen, als die in der GKV organisierten abhängig Beschäftigten mit niedrigen Arbeitseinkommen durch ihre Pflichtbeiträge leisten konnten. Das so entstandene Finanzloch mussten die Bezieher größerer Einkommen stopfen, die sukzessiv durch gesetzliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in die GKV gezwungen wurden. So verwandelte sich Bismarcks solidarische Notgemeinschaft bis in die 80er-Jahre in eine komfortable Vollkaskovolksversicherung für fast alle Wechselfälle des Lebens.

Ihr gehörten nicht nur die zehn Prozent der Ärmsten, sondern 90 Prozent der Gesamtbevölkerung an, und sie garantierte den Versicherten kostenlose Behandlung jeder auftretenden Krankheit, Lohnersatz, Zusatzurlaub und schließlich sogar ein Rundum-Wohlfühlpaket mit Kururlaub, zu dem selbst ärztlich verordnete Auslandsreisen, Golf- und Reitsport gehörten. Es war das Schlaraffenland eines scheinbar kostenlosen Gesundheitswesens, das ohne Geld auskommt. Zudem vermittelte es ihren Mitgliedern im Gegenzug für ihre Pflichtbeiträge das angenehme Gefühl, als Bedürftige der Gesellschaft ein Anrecht auf das volle Füllhorn des Sozialstaats zu haben.

Das kommunistische Ideal der Überwindung des Kapitals, der Eliminierung des Geldes aus der Arzt-Patienten-Beziehung und eine ärztliche Behandlung völlig unabhängig von der wirtschaftlich-finanziellen Situation des Patienten war listigerweise von der Ärzteschaft mit dem sogenannten Sachleistungsprinzip in die GKV eingeführt worden – vordergründig mit dem Argument, dass kein Gedanke an den schnöden Mammon die Heilung belasten solle. So kamen den gesetzlich Versicherten nur noch die ärztlichen Sachleistungen zugute, ohne mit den von ihnen verursachten Kosten behelligt zu werden. Die Rechnung bezahlte die Kasse.

Für die Patienten war damit der kommunistische Idealzustand einer für den Einzelnen kostenlosen Bedürfnisbefriedigung erreicht: Jeder wird so behandelt, wie es seine Krankheit erfordert. Das kostenlose und immer üppigere Angebot von Gesundheitsleistungen ließ die Nachfrage und damit die Einnahmen der Leistungserbringer ständig steigen. Denn die Versicherten lieferten sich ein Windhundrennen um möglichst viele angenehme GKV-Leistungen. Dieses System war nach einigen Jahrzehnten am Ende, und seit den 90er-Jahren muss ernsthaft gespart werden. Die von Horst Seehofer eingeführte Praxisgebühr war der erste kleine Schritt in diese Richtung.

Für die sogenannten Leistungserbringer war das aus Patientensicht kommunistische Sachleistungsprinzip überaus lukrativ, denn gleichzeitig wurde das kapitalistische System von Angebot und Nachfrage zum eigenen Vorteil pervertiert. Die ärztlichen Leistungen explodierten gleichsam, denn sie wurden kostenlos angeboten. Da wird vieles mitgenommen, was eigentlich unnötig ist.

Normalerweise kann ein Arzt zwar nur eine begrenzte Zahl von Patienten behandeln, aber seit den 60er-Jahren dirigierte ein Labormediziner die Ärzteschaft, und sein Fach schoss ins Kraut. Denn die Labormedizin konnte „Werte“ im Blut bestimmen oder was in den Ausscheidungen des menschlichen Körpers sonst noch alles zu finden ist. Damals war einem vorausschauenden, von der Margarine-Industrie gesponserten und von der Fachwelt noch immer hochverehrten Heidelberger Internisten die Geschäftsidee vom Cholesterinwert eingefallen. Er verkündete, durch Senkung des Cholesterinspiegels seien Herzinfarkt und Schlaganfall zu verhüten. Nun ist zwar unbestritten, dass hoher Fettkonsum zu erhöhtem Cholesterinspiegel führt. Es stimmt auch, dass ein erhöhter Cholesterinspiegel Arteriosklerose bedingt und Arteriosklerose wiederum eine Ursache (unter mehreren) für Herzinfarkt und Schlaganfall ist. Doch es ist ein typischer Kurzschluss, dass die Senkung von Fettkonsum und Cholesterinspiegel Herzinfarkt und Schlaganfall verhüten kann. Die andere Wahrheit, dass gleichzeitig mit einem niedrigen Cholesterinspiegel das Krebsrisiko steigt, erkannte man erst später.

Da war das Dogma von der Bedeutung des Cholesterins für die Gesundheit schon etabliert und zusammen mit anderen Blutwerten zu einer über jeden Zweifel erhabenen Grundlage der neuen Gesundheitsreligion geworden, deren Gläubige sich mit geschmacklosen, weil fettfreien Schnitzeln kasteien. Und Damenkaffeekränzchen haben seither im ganzen Land mit ihren Cholesterin- und sonstigen Werten ein unerschöpfliches Gesprächsthema gefunden. Dieser Glaube an gesunde Werte, insbesondere des Cholesterins, steht allerdings auf einem ähnlich wackeligen Fundament wie der an die unbefleckte Empfängnis. Und wie früher die Kirche mit dem Fegefeuer drohte, so wird den Medizingläubigen heute mit ihren Blutwerten Angst eingejagt und werden die Kosten der GKV in Rechnung gestellt. Dabei sind die Menschen ohne diesen medizinischen Hokuspokus eher gesünder und leben länger, zumindest nicht kürzer.

Selbst als das System schon an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gestoßen war, haben geschäftstüchtige Ärztefunktionäre die fachfremden Sozialpolitiker wie Horst Seehofer und Ulla Schmidt noch übertölpelt und Präventionsmaßnahmen als ärztliche Leistungen in den Leistungskatalog der GKV gedrückt. So entstand aus der eigentlichen Versicherung gegen Krankheit eine gesetzliche Gesundheitsversicherung. Sie ist nicht nur systemfremd, sondern zudem kostspielig und ineffektiv, denn sie beruht auf dem gleichen Denkfehler, der schon den Staatskommunismus in den Bankrott getrieben hat. Es ist die mechanistische Vorstellung, Menschen seien Maschinen.

Ähnlich wie die Fahrtüchtigkeit von Kraftfahrzeugen durch regelmäßige TÜV-Überwachungen abgesichert wird, so soll auch die Gesundheit durch einen ärztlichen Check-up erhalten werden. Nun kann logischerweise durch einen positiven ärztlichen Befund zwar eine Krankheit diagnostiziert, aber in keinem Fall durch einen negativen die Gesundheit garantiert werden. Wer das behauptet, ist ein Scharlatan, wer daran glaubt, ein Tölpel. Denn was in gewissen Grenzen bei der Zahngesundheit möglich ist, weil Reparaturen am Gebiss denen in einer Kfz-Werkstatt durchaus ähnlich sind, das ist bei Krankheiten weitgehend unmöglich, denn daran sind stets auch psychische Faktoren beteiligt, im einen Fall mehr, im anderen weniger.

So können ärztliche Check-ups die Gesundheit in Wirklichkeit weder erhalten und noch weniger verbessern, sehr wohl aber verschlechtern. Denn Gesundheit ist eben keine unabänderliche, feste Größe, auf die der Einzelne keinerlei Einfluss hat. Gesundheit ist vielmehr ebenso volatil wie menschliche Bedürfnisse. Gesund ist nur, wer gesund sein will, von seinen möglichen Krankheiten nichts wissen will und Ärzte so weit wie möglich meidet. Selbstredend kann niemand schweren schicksalhaften Krankheiten entgehen. Hier ist medizinischer Sachverstand unverzichtbar. Doch die überwiegende Mehrheit aller Krankheiten, derentwegen Versicherte ihren Hausarzt aufsuchen, sind Banalerkrankungen, die von selbst ausheilen oder durch Hausmittel zu behandeln sind. In den allermeisten Fällen ist hier keineswegs ein Arzt notwendig, sondern nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum legalen Krankfeiern. Letztlich hat der Einzelne zu entscheiden, ob er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, krank sein und krankfeiern will oder ob er keinen Arzt sehen, allein gesund werden und arbeiten will. Der Wille entscheidet ganz wesentlich über Gesundheit und Leistungsfähigkeit.

Weil die Pflichtversicherten durch ihre GKV aber zu regelmäßigem Arztbesuch gezwungen werden, sind sie dem ständigen Einfluss von Ärzten ausgesetzt, die Krankheiten diagnostizieren und gelegentlich Kranke auch heilen. Gesunde sind hier fehl am Platz, sie können nicht gesünder, sondern höchstens krank werden. So hat unser derzeitiges Gesundheitssystem mit seinem primitiv-verqueren Menschenbild ein Volk von Scheinpatienten gemacht, die im Jahr durchschnittlich 18 Arztbesuche absolvieren. Diese Zahl sagt wenig über den objektiven Gesundheitszustand der Menschen, aber sehr viel über ihre Manipulierbarkeit, wobei das eine das andere bedingt.

Durch ihre 18 jährlichen Arztbesuche werden sie weder gesünder, noch haben sie eine höhere Lebenserwartung als unsere europäischen Nachbarn. Hier wird ein Arzt im Mittel jährlich nur zwei- bis dreimal aufgesucht, und entsprechend fünf- bis zehnfach geringer sind die Kosten. Die gesetzlich Versicherten fühlen sich hierzulande nicht einmal gesünder, sondern im Gegenteil eher kränker. Schließlich beinhaltet jeder Arztbesuch das Risiko einer ernsten Krankheitsdiagnose. Das mag mancher als Nervenkitzel genießen und sich wie der Reiter über dem Bodensee fühlen, wenn ihm sein Arzt versichert, er sei ganz gesund. Aber im Allgemeinen ist nur glücklich und gesund, wer von seinen Krankheiten gar nichts weiß. „An meinen eigenen Körper lasse ich die Präventivmedizin gar nicht erst ran“, lautete deshalb der Ausspruch eines klugen Kieler Hygienikers.

Und wie bisher alle kommunistischen Staaten gescheitert sind, so ist auch der Bankrott unseres kommunistisch organisierten gesetzlichen Gesundheitswesens auf Dauer unvermeidbar. Denn die Kosten steigen unaufhaltsam weiter, während die Zwangsbeiträge zur GKV bald die Schallmauer erreichen und der große Knall kommt. Denn in der solidarisch organisierten GKV wurde den Gesunden nicht nur die Arbeit der Kranken aufgebürdet, sondern auch das seit ewigen Zeiten geltende Gesetz, dass Krankheit zu Armut und Not führt, außer Kraft gesetzt und peu à peu in das Gegenteil verkehrt: Krankheit wurde ein Grund zum Krankfeiern, denn die Solidargemeinschaft arbeitet für den Kranken mit. Die von scheinbar gut meinenden Sozialpolitikern organisierte kollektive Verantwortungslosigkeit hat unser Gesundheitswesen monströs aufgebläht, aber in keinem Punkt effektiver gemacht.

Der erste Schritt zurück in die soziale Marktwirtschaft, der sich auch der Gesundheitsmarkt nicht auf Dauer entziehen kann, ist die Information über die individuellen Kosten, die jeder Kranke verursacht. Insgesamt sind das jährlich circa 290 Milliarden Euro. Die einzig effektive Möglichkeit, beim Einzelnen das persönliche Interesse an einem sparsamen Umgang mit den medizinischen Ressourcen zu wecken, ist der finanzielle Anreiz, wie er sich in der Schweiz als Selbstvorbehalt oder in der Kfz-Versicherung als Schadensfreiheitsrabatt glänzend bewährt hat. Schließlich sind diese Versicherungen zwar solidarisch, aber nicht kommunistisch organisiert. Sie berücksichtigen das Eigeninteresse der Versicherten besser. Aber gerade das fürchten Sozialpolitiker und Leistungserbringer gleichermaßen wie der Teufel das Weihwasser, denn es würde das Gesamtvolumen reduzieren, das der Medizinkomplex derzeit unter sich aufteilt.

Auch für die Sozialpolitiker würden dann manche Versorgungsposten entfallen. Daher wurden bei allen Anhörungen und den daraus resultierenden Gesundheitsreformen der vergangenen Jahrzehnte de facto immer nur die Interessen von Leistungserbringern und Sozialpolitikern berücksichtigt. Die tatsächlichen Interessen der Patienten an einer rationalen, sparsamen und verantwortungsvollen medizinischen Versorgung wurden dagegen mit Pseudoargumenten über ihr angebliches Wohl übergangen.